Das Agile Unternehmen: Warum ein ganzheitliches Verständnis entscheidend ist.

Karsten Hoffmann

Ein Interview von Dr. Karsten Hoffmann mit Agile Coach Jörg Blumenstein aus Bahlingen am Kaiserstuhl.

Unter dem Thema „Agilität: Die 4 wirklich wichtigen Fragen, damit die Praxis funktioniert!“ hat die Initiative ZUK2030 zu einem Vortrag am 19. Juli 2022 in den Denkraum Freiburg eingeladen. Dabei geht es darum, die verschiedenen Facetten von Agilität zu beleuchten, die eine wirksame Praxis ermöglichen. Der Referent Jörg Blumenstein ist Teil des ZUK Teams, Agile Coach, Agiler Organisationsentwickler und Inhaber von agile wege.


Karsten Hoffmann (KH): Über 20 Jahre gibt es schon das Agile Manifest, das ja eine ganz wichtige Grundlage für Agilität und Agiles Vorgehen bildet. Welche der dort propagierten neuen Prioritäten werden heute – nach deiner Erfahrung – in der unternehmerischen Praxis am meisten gelebt?

Jörg Blumenstein (JB)Am meisten gelebt wird das Agile Manifest dort, wo Agilität auch wirklich stattfindet. Schlussendlich bietet das Agile Manifest ja eine Grundlage, auf der man eine agile Zusammenarbeit aufbauen sollte. Daher beschreibt es elementare Grundsätze wie „Individuen und Interaktionen zählen mehr als Prozesse und Werkzeuge“ oder „Funktionierende Software zählt mehr als umfassende Dokumentation“. Zu verstehen ist das so: Tue das eine aber lass das andere nicht sein. Einen Grundsatz besonders hervorzuheben bringt eher nicht so viel, weil eben alle miteinander zu tun haben. Daher funktioniert das Agile Manifest am Ende am besten in seiner Gesamtheit. Wenn ich zum Beispiel sagen würde, ich konzentriere mich jetzt mehr auf die Funktionierende Software als auf die Zusammenarbeit mit dem Kunden, dann werde ich schnell merken, dass ich das eine ohne das andere gar nicht zufriedenstellend hinbekomme.

Das Agile Manifest, visualisiert.

KH: Ich verstehe, dass alles zusammenhängt und dass das ein wichtiges Merkmal des Agilen Manifests ist. Daher noch einmal etwas präzisiert: Wenn wir so ein Manifest haben, sollten wir doch sicherlich überprüfen, was wir davon bereits am meisten leben und wo wir noch am schwächsten bei diesen Forderungen aufgestellt sind?

JB: Absolut! Erfahrungsgemäß steckt ein enormes Potenzial in einer guten Zusammenarbeit im Team, also dem ersten Element vom Manifest: „Individuen und Interaktionen zählen mehr als Prozesse und Werkzeuge“. Das ist das Thema Teamwork und das Ziel, gemeinsam passfähige Abläufe zu finden, die im Team wirksam sind und gut funktionieren. Diese individuellen Abläufe können gerne bestehende Prozesse und Werkzeuge im Unternehmen bedienen, sollten diese aber auch von Fall zu Fall infrage stellen dürfen. Prozesse und Werkzeuge können die Interaktion von Individuen nämlich auch behindern, das ist ein besonders spannender Zusammenhang in diesem ersten Element vom Agilen Manifest. Mit gut eingespielten Teams, die sich mit kritischen Fragestellungen auseinandersetzen, habe ich als Unternehmen eine gute Basis für die konstruktive Arbeit mit dem Agilen Manifest, auch über die Grenzen der Teams hinaus.

KH: Was sagst du zum Thema „funktionierende Software“? 

JB: Funktionierende Software nenne ich gerne noch allgemeiner funktionierende Ergebnisse, denn Agilität ist ja schon längst nicht mehr nur in der Software Entwicklung anzutreffen. Ein Ergebnis funktioniert für mich gut, wenn es die Anforderung und die Problemstellung des Kunden löst. Daher bin ich der Meinung, dass der Kunde immer mehr zählen sollte, als eine Dokumentation oder als die Vertragsverhandlungen im Kontext mit der Zusammenarbeit, was ja dann auch das nächste Element im Manifest ist. Eine Software funktioniert also dann gut, wenn der Kunde zu Dir sagt: „Das ist jetzt genau das, was ich wollte und es löst genau das Problem, das ich habe.“ Und deshalb ist es sinnstiftend, funktionierende Ergebnisse über eine umfassende Dokumentation zu setzen. Nichtsdestotrotz heißt das natürlich noch lange nicht, dass man auf die Dokumentation verzichten kann. Das ist das Spannungsfeld, in dem man sich bewegt. Und das ist ganz bewusst so gemacht, damit man sich im spezifischen Projekt oder bei einem spezifischen Kunden genau dort wiederfindet, wo es für beide Seiten passt.

KH: Also du willst dich nicht auf eine Aussage einseitig festlegen, weil eben alles zusammengehört.

JB: So ist es, aber – und das ist jetzt vielleicht die viel spannendere Frage – stell dir das Agile Manifest mal als eine Art Equalizer mit Schiebereglern vor, die man von rechts (klassisch) nach links (agil) schiebt für jedes einzelne Element vom Manifest. Dann ist es so, dass man in unterschiedlichen Konstellationen – sprich in unterschiedlichen Firmen oder selbst innerhalb einer Firma in unterschiedlichen Teams – die Regler anders einstellen würde, vielleicht sogar von Projekt zu Projekt. Deswegen tue ich mich so schwer mit der Frage, denn es gibt eben nicht die eine Blaupause oder die Non-Plus-Ultra-Empfehlung. Am Ende hängt es wirklich vom Projekt und den Rahmenbedingungen ab, und es wird nur dann erfolgreich sein, wenn alle Regler für die spezifische Situation „passend“ eingestellt sind.

KH: Du hast ja mit vielen verschiedenen Kunden zu tun. Was ist deine Erfahrung, was würdest du sagen, was läuft am ehesten gut und wo hapert es am meisten? 

JB: Am ehesten gut – was ich so sehe – sind schon die funktionierenden Ergebnisse. Ob diese aber auch wirklich passfähig für das Kundenproblem sind, ist nochmal eine ganz andere Frage. Da macht es durchaus Sinn, mal etwas genauer hinzuschauen, um aus funktionierenden Ergebnissen auch richtig geile Ergebnisse zu erschaffen, indem man die Schieberegler justiert. Auf der anderen Seite ergibt sich bei der Fragestellung „Reagieren auf Veränderung zählt mehr als das Befolgen eines Plans“ ein besonders großes Spannungsfeld bei dem es dank der Agilität noch ganz viel Potenzial zu entdecken gibt.

KH: Aus deiner Praxis, wie gut sind die Unternehmen, die dich beauftragen, bzgl. Agilität aufgestellt? Und auch hier: Was machen sie schon richtig und woran hapert es noch?

JB: Sehr gute Fragen. Ich sehe, dass viele Unternehmen bei sich agile Methoden und Prozesse einzuführen, um auf die massiven Veränderungen, die sich durch die dynamischen Märkte sowie den Herausforderungen unserer Zeit ergeben, schneller und besser reagieren zu können. Jetzt ist es aber leider so: Nur die Methoden und Prozesse zu adaptieren, auf eine bestehende Projekt- oder Teamkultur, das ist nicht unbedingt zielführend. 
Was hier enorm wichtig ist und wo es leider noch am meisten hapert, ist ein ganzheitliches Verständnis von Agilität. Sich auch mal zu fragen: „Auf was kommt es denn noch an?“ Agilität ist ja nicht nur eine Projektmanagement-Methode. Es ist ein noch viel weiterer Raum, der auf einem ganz bestimmten Mindset basiert, also auf einer Haltung. Die gilt es im Unternehmen als Kultur vorzuleben, um darauf Agilität mit den passenden Praktiken, Methoden und Prozessen aufzubauen – das ist der Knackpunkt.
Es gibt schon viele, die machen etwas agil. Das nenne ich dann gerne „mechanisch agil“ – Die Grundlage, also die Breite der Agilität, die irgendwo in dem Spannungsfeld zwischen Haltung und Mindset und den Methoden und Prozessen liegt, diesen Raum sollte man versuchen zu füllen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.

KH: Kannst du das letzte noch mal genauer erläutern?

JB: Ja klar, gerne. Ich meine den Raum von „Ich bin agil, ich habe eine gewisse Grundhaltung“ bis hin zu „Ich benutze agile Methoden und Prozesse“. Aus der Grundhaltung ergeben sich bestimmte Prinzipien, nach denen ich handle, sowie bestimmte Praktiken, aus denen sich dann wiederum die agilen Methoden und Prozesse zusammenbauen. Damit habe ich prinzipiell schon das gesamte Spannungsfeld aufgezeigt. Als Unternehmen muss ich das gesamte Spannungsfeld bedienen, wenn ich wirklich agil sein will und wenn ich die Wirksamkeit von Agilität auch wirklich haben möchte.  Andernfalls bleibe ich eben mechanisch in den Methoden und Prozessen. Dann werde ich immer wieder an der Kultur des Unternehmens anstoßen, die sich aus der klassischen Welt entwickelt hat.

KH: Viele Unternehmen behaupten agil zu sein oder agil zu arbeiten. Welches Mindset bzw. welche Werte sind wichtig, um Agilität authentisch leben zu können.

JB: Es ist sehr gut, an dieser Stelle einmal diese agile Grundhaltung (also das Mindset) zu vertiefen. 
Da ergeben sich im Prinzip vier Grundbausteine:

  1. Zunächst einmal ist eine lernende Grundhaltung wichtig, auch „Learning Spirit“ genannt. Man versucht, gezielt Experimente zu machen. Man möchte lernen und auch Fehler sind erlaubt, um daraus neue Erkenntnisse zu gewinnen. Man sucht stetig nach neuen Wegen, die eigene Arbeit noch besser zu gestalten. 
  2. Der zweite Baustein nennt sich „Collaborative Exchange“. Dabei geht es darum, miteinander für Transparenz zu sorgen, für andere offen zu legen, woran man gerade arbeitet, indem man alle Karten ehrlich auf den Tisch legt. Man schaut sich die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven an und gibt sich aktiv Feedback. Ganz bewusst auch auf fachlicher Ebene, um den Austausch zu fördern, sich andere Sichtweisen einzuholen und knifflige Fragestellungen mit einem Sparringspartner zu hinterfragen.
  3. Dann geht es natürlich um die Werterzeugung. „Iterative Value Creation“ nutzt eine iterative Vorgehensweise, um den Wert eines Produkts nach und nach aufzubauen. Man geht möglichst nach jeder Iteration mit dem Kunden in den Austausch, damit man frühzeitig Feedback bekommt. Dieses geht direkt in die nächste Iteration ein, damit das Produkt für den Kunden passfähiger wird und das Ergebnis noch wirksamer. Natürlich hat es auch ein bisschen etwas Verspieltes, gemeinsam mit dem Kunden herauszufinden, ob bereits die richtige „Würzmischung“ gefunden wurde oder ob es vielleicht doch noch ein bisschen mehr „Salz“ oder ein bisschen mehr „Pfeffer“ braucht.
  4. Schließlich haben wir noch den Baustein „Empowered Self-Guiding“. Da geht es um die Selbstorganisation im Team. Das bedeutet natürlich auch Verantwortung zu übernehmen und das ist kein Ding, das einfach und digital funktioniert. Es steht oft sehr im Widerspruch zur klassischen Kultur. Daher ist es eine der größten Hürden, die es zu nehmen gilt. Es bedeutet nämlich, jeder Person im Team Vertrauen zu geben und dem Team den Raum für Entscheidungen, damit ein Ergebnis überhaupt verantwortet werden kann. 

KH: Ich bin da ganz bei dir, das sind ja auch Schritte zur Teambildung („Norming“) – ich meine dabei auch die Wechselwirkung – wenn es gut läuft, dann flutscht das auch. Die Leute ergänzen und helfen einander, „das Team funktioniert“.

JB: Genau! Und das ist übrigens auch ein Grund, warum ich mich mit dem Wort Werte immer so schwertue. Für mich sind Werte nämlich noch einmal etwas anderes und daher ist für mich auch der Begriff „Agile Werte“ schwierig. Ich habe mich lange, ganz lange damit auseinandergesetzt, weil es bei mir immer einen inneren Konflikt ausgelöst hat. Für mich sind Werte sehr individuell, die kann ich nicht jemandem überstülpen und schon gar nicht mit Agilität.

Daher mag ich das Wort Haltung viel lieber. Was mir daran so gut gefällt ist, dass ich eine Haltung aktiv entwickeln kann. Die kann jede Person für sich persönlich auf- oder ausbauen. Da kann ich einen Rahmen bauen und kann reinwachsen oder ich kann mich einfach darin entfalten. Haltung entwickelt sich. Während bei Werten, da zögern viele Leute. „Was will denn der jetzt von mir mit diesen Werten? Das fühlt sich jetzt aber komisch an“. Deswegen gefällt mir auch das Wort Mindset nicht so richtig, mir gefällt das Wort Haltung viel besser. 

Man könnte es auch Spirit nennen, wenn man unbedingt ins Englische gehen möchte. Den kann man in einem Teambuilding-Prozess sehr gut erleben. Wenn ein Team so richtig zum Team wird, also zu einem sogenannten High Performance Team, dann haben die einen gewissen Spirit. Der beinhaltet eine gemeinsame Grundhaltung gegenüber dem, wie das Team miteinander arbeiten möchte. Da spielt das total rein, weshalb es für mich auch viel schwieriger ist, wenn ich in ein Unternehmen komme, in dem es augenscheinlich agile Teams gibt, die dann aber voll auf der „mechanischen Seite“ unterwegs sind. Da ist klar, dass die entweder noch nicht viel mit der agilen Grundhaltung gearbeitet haben oder dass es noch viele Elemente aus der alten „klassischen“ Welt gibt, die eine Entfaltung dieser Grundhaltung „drosseln“.

KH: Wir beide kennen Agilität, ich glaube auch du, vor allem aus der IT. Und IT spielt auch in verschiedenen Bereichen eine Rolle. Dennoch ist es ja so, dass Agiles Vorgehen auch viel allgemeiner verwendet werden kann. 
Deshalb die konkrete Frage: In welchen Branchen denkst du, spielt Agiles Vorgehen eine größere Rolle könnte eine größere Rolle spielen, wenn man es versuchen würde?

JB: Was mir wichtig ist, ich möchte nicht Agilität mit Scrum oder Kanban gleichsetzen.
Bei der Agilität geht es ja auch darum, auf agilen Prinzipien basierend ein Organisationsdesign zu gestalten, das es den Teams ermöglicht, wertschöpfend zu arbeiten. Deswegen schränke ich das gar nicht auf einzelne Branchen ein. Wenn ich den Wertstrom kenne, dann kann ich auch die Organisation so strukturieren, dass es möglich ist, entlang des Wertstroms hochagil zu arbeiten. Es gibt natürlich Branchen, wo das besonders stark eingeführt wurde, wie zum Beispiel im Bankenwesen, aber Agilität ist überall dort sinnvoll, wo man neue Dinge erschafft und mit Problemstellungen umgeht, die nicht trivial sind. Das kann sein, ich schreibe ein Buch, das kann aber auch sein, ich entwickle ein hochkomplexes Produkt. Die Bandbreite ist da sehr groß.

Ich finde es eher interessant, mal zu überlegen, für welche Bereiche Agilität denn spannend sein könnte. Da sage ich sogar, dass ein agiler Vertrieb super spannend sein kann. Nehmen wir einfach mal an, wir kommen in ein klassisch organisiertes Unternehmen und fangen dort an, im Vertrieb Agilität einzuführen. Da entstehen ganz neue Denkmuster. Das hat zur Folge, dass man den Innen- und Außendienst viel enger zusammenbringt. Man muss überlegen, wo es Sinn macht, Teams neu zu bilden und ob dafür tatsächlich die bisherigen Vertriebsgebiete ausschlaggebend sind. Eine wichtige Fragestellung ist auch, wie man alle gleichermaßen an den Erfolgen beteiligt. Nicht der Außendienst bekommt den ganzen Bonus, weil er beim Kunden war und auch nicht der Außendienstler muss so-und-so-viel Kunden am Tag besuchen, damit er sein Soll erfüllt hat. Es geht dann vielmehr darum, aus einem Vertriebsgebiet oder Kundenkreis gemeinsam als Team das Beste herauszuholen. Und da sitzt dann halt nicht mehr der Außendienst auf dem fetten Bonus, sondern alle miteinander im gleichen Boot. 
Da entstehen ganz tolle Gedanken und ganz neue Ansätze. Die sind zwar sehr disruptiv, aber dadurch auch wirksam!

KH: Aber das heißt, du hast dich jetzt meiner Frage nach den Branchen konkret entzogen.

JB: Wie gesagt, am wirksamsten ist es überall dort, wo neue Produkte entwickelt und produziert werden, also z.B. im Bereich Automotive und im Maschinenbau. Aber auch im Bankenwesen und selbst im Pharmabereich bei den ganz großen Unternehmen wie Roche ist es enorm wichtig, für die agile Zusammenarbeit auch diese agile Grundhaltung zu entwickeln. Da hatte ich persönlich direkte Einblicke durch einen Kooperationspartner, der da schon seit Jahren sehr erfolgreich und groß unterwegs ist mit den Bewegungen in Richtung New Work und Agilität.

KH: Dieses Agile Vorgehen und natürlich auch diese Bausteine, die man dazu braucht – ist das vielleicht so, dass das Bausteine sind, die wir auch gesellschaftlich brauchen?
Da gibt es ja bestimmte Themen in der Politik (in Deutschland), die einen großen Change bräuchten. Aber wenn man nur das Thema nennt, fangen schon alle an zu Gähnen – oh Gott, wie zäh und schwierig. Andererseits sind wir oft überrascht, dass die skandinavischen Länder und auch die Länder des Baltikums (Estland, Lettland, Litauen) sehr pfiffige kleine Lösungen haben. Und in welcher Geschwindigkeit die das in ihrer Gesellschaft oder ihrem Staat einführen können. Ich habe das Gefühl, dass diese jungen Staaten da in der Regel sehr viel schneller sind.

JB: Das gleiche Bild sehen wir ja auch in der Industrie. Start-Ups, die viel flexibler und anpassungsfähiger scheinen als große Unternehmen oder Konzerne. Da gibt es immer wieder diese netten Vergleiche mit dem kleinen Schnellboot und dem großen Tanker.
Aber du hast schon recht, es ist tatsächlich eine gesellschaftliche Sache. Die ergibt sich m.E. im Kern aus der gesellschaftlichen Haltung gegenüber anderen Menschen und der Fragestellung: Wie autoritär ist unser System, oder wie kooperativ ist es gestaltet? Das ist ein Thema, da werde ich auch bei meinem Vortrag kurz drauf eingehen und da werden wir ein kleines wissenschaftliches Experiment dazu machen. Wenn ich ein sehr autoritäres System habe, dann ist es einfach schwierig, dass einzelne Personen Verantwortung übernehmen und sich kooperativ organisieren, denn solche Systeme implizieren, dass der Befehl „von oben“ kommt. Das ist in den nordischen Ländern wohl anders. Man könnte auch sagen, die sind basisdemokratischer als wir in Deutschland mit unseren stringenten bürokratischen Regeln und Gesetzen.

Da ergeben sich dann ganz andere Chancen und die nutzen diese Menschen eben auch, weil sie grundsätzlich eine wohlwollende Haltung den anderen Menschen gegenüber haben. Das ist ein ganz wichtiges Element, was sicherlich auch irgendwo in die Haltung reinspielt, aber im Kern mit deren Werten zu tun hat. Und da merkt man eben, dass das mit der Gesellschaft zu tun hat und dass Gesellschaft natürlich prägend ist von ganz jung an. Ich komme als Kind in ein autoritäres System, das nennt sich Schule. Ich muss den oben gefallen, damit ich unten quasi „fein“ bin, nicht anecke, möglichst konform. Und das ist halt eine Schwierigkeit, die kontraproduktiv für einen emergenten – sich frei entfaltenden – Prozess ist, wie er in der Agilität gewünscht ist.

KH: Kann ich das – banal beschrieben – vergleichen mit folgender Situation im Kindergarten? Nach einer Gruppenübung soll am Ende gespielt werden. Autoritär wäre es dann, den einzelnen Kindern vorzuschreiben, was sie wie spielen sollen. „Agilitätsfördernder“ wäre es vermutlich, den Kindern selbst zu ermöglichen, sich zu organisieren und das zu spielen, worauf sie am meisten Lust haben. 

JB: Ja, das ist ein ganz gutes Beispiel. Vielleicht ist es sogar noch besser als das aus der Schule, um zu beschreiben, wie ein sich frei entfaltender Prozess entstehen könnte. Und es zeigt ja außerdem, wie früh wir schon in eine andere Richtung geprägt werden.


Unser Gespräch endet mit einer lebhaften Diskussion über die momentane gesellschaftliche Situation angesichts Corona, dass Politiker (autoritäre?) Führung „liefern sollen“, dass wir Lernende (im agilen Sinne) bleiben müssen, deshalb öfter nur „auf Sicht fahren können“, und dass manche immer noch gerne auf den Zauberer warten, der uns alle rettet. … 

Mehr zu Jörg Blumenstein unter www.agile-wege.de