Nachhaltigkeitsleistungen sind kein Add-On, sondern die Grundlage guten Wirtschaftens!

Andrea Rahaman
Christian Hiss

Mein Gesprächspartner Christian Hiß wuchs am Kaiserstuhl auf einem der ersten Biobauernhöfe Deutschlands auf, den er auch selbst bewirtschaftet hat. 16 Jahre lang war er Vorstand der von ihm gegründeten Regionalwert AG, einer Bürger- Aktiengesellschaft, die Kapital für nachhaltig wirtschaftende landwirtschaftliche Betriebe zur Verfügung stellt und versucht, eine regionale Wertschöpfungskette aufzubauen. Über 1000 Aktionär:innen haben so für die 25 Partnerbetriebe in der Regionalwert AG ein Grundkapital von 4,7 Millionen € bereitgestellt. Mittlerweile hat sich die Idee der Regionalwert AG von Freiburg aus deutschlandweit und auch im benachbarten Ausland durch weitere AG-Gründungen verbreitet.

Seit Beginn seiner Zeit als Gärtner und Landwirt treibt Christian Hiß die Frage um, wie all die Nachhaltigkeitsleistungen, die landwirtschaftliche Betriebe für Mensch und Umwelt einbringen, in der Bilanz mit einem konkreten Geldwert dargestellt werden können, damit ökologisches Wirtschaften nicht nur als Kostenfaktor sichtbar ist, sondern auch der dadurch geschaffene Mehrwert als Erfolg verbucht werden kann. Seine Erkenntnisse und Forderungen hat er in den Forschungsintiativen Richtig Rechnen! und Quarta Vista formuliert, und als Geschäftsführer der Regionalwert Leistungen GmbH ein Tool mitentwickelt, das allen landwirtschaftlichen Betrieben genau dies ermöglicht: Ihre Nachhaltigkeits-leistungen werden sichtbar – als das, was sie sind: Erfolge, Leistungen fürs Allgemeinwohl.

ZUK: Du hast mir in der Vorbereitungsemail auf unser heutiges Gespräch geschrieben, dass du dich vor 15 Jahren auf den Weg gemacht hast, die bestehende, klassische Betriebswirtschaft den Erfordernissen der Zeit anzupassen. Was sind denn die Erfordernisse der Zeit?

C.H.: Ich bin 100% davon überzeugt, dass die klassische Bilanzierung Risiken und Leistungen aus dem Bereich der SDGs (Sustainable Development Goals) aufnehmen muss. Für mich sind diese 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, die Agenda 2030, das große Framework, vor dem sich jedes Unternehmen der Welt spiegeln lassen muss. Und zwar nicht nur im Ideellen, sondern in der Bilanz. Und da haben wir in den letzten 10 Jahren mitgearbeitet, eine Methode zu entwickeln, wie man die SDGs in die betriebliche Erfolgsrechnung  der Unternehmen bringen könnte.

ZUK: Das ist „Richtig Rechnen!“…

C.H.: Genau, das war zunächst Richtig Rechnen!, später dann erweitert zu Quarta Vista und heißt jetzt Sustainable Performance Accounting.

ZUK: Euer Ziel war es, mit der Initiative Richtig Rechnen! die „ökologisch-ökonomische Wende“ einzuleiten, was bedeutet das für dich?

C.H.: Eigentlich ist die Methode furchtbar banal, aber gleichzeitig ist es ein Hebel für die Transformation, der könnte nicht größer sein. Man erweitert die Buchhaltung um Tätigkeiten und Aufwandskosten, die im Rahmen dieser 17 Nachhaltigkeitsziele im Betrieb stattfinden. Ganz konkret am Beispiel meines eigenen damaligen Hofes: ich habe enormen Aufwand betrieben, so viele Leistungen erbracht für die Bodenfruchtbarkeit, habe Kompost gemacht, habe einen Stall gebaut, habe keinen Dünger von außen eingebracht, samenfeste Sorten versus Hybridsaatgut eingesetzt, habe ausgebildet, habe regional vermarktet, – und das war alles immer nur betrieblicher Aufwand, und betrieblicher Aufwand bedeutet immer nur Kosten. Und diese Kosten waren im allgemeinen Aufwand enthalten. Und der Steuerberater und die Banker haben immer nur gesagt: „Du arbeitest zu teuer, du bist ineffizient!“ Das war für mich eine Provokation. An diesem Punkt habe ich mich dann auf den Weg gemacht, Social Banking and Social Finance studiert und meine Masterarbeit über Nachhaltigkeitswerte in der Finanzbuchhaltung landwirtschaftlicher Betriebe geschrieben.

ZUK: Was genau kann man sich darunter vorstellen?

C.H.: Ich habe versucht, diesen Aufwand für Nachhaltigkeitsleistungen zur Erhaltung von Betriebsvermögen in der Buchhaltungen zu dokumentieren. Mit solch einer differenzierten Buchhaltung kommt man zum ersten Mal zu Geldbeträgen, die zeigen, was da eigentlich z.B. für Bodenfruchtbarkeit aufgewendet worden ist. Und dann ist man beim Aufwand und kann sich überlegen: „Sind das jetzt Investitionen oder sind es Ausgaben?“ Und so habe ich eben mit Erfolg versucht, Faktoren, die bisher mit der BWL überhaupt nicht in Beziehung gesetzt wurden, mit der BWL zu verknüpfen. Das bietet einen differenzierten Blick auf Unternehmenstätigkeiten. Ausgehend von diesem banalen Vorgang des differenzierten Buchhaltens geht plötzlich eine Welt auf: Was mache ich denn jetzt mit diesen 15.000 € Kosten für die Kompostausbringung zum Erhalt der Bodenfruchtbarkeit? Man könnte sie einfach auf die Preise aufschlagen, und dann sind sie in den Erträgen wieder drin. Aber dann hätte man Preise, die auf dem Markt niemand mehr bezahlt. Das funktioniert also nicht.

ZUK: Was funktioniert dann?

C.H.: Aus dieser Frage hat sich in den letzten 10 Jahren Unglaubliches gebildet. 2015 hab ich ein kleines Buch herausgebracht, eben „Richtig Rechnen!“ und eine Jahr später kam SAP als weltgrößter Anbieter von Rechnungslegungssoftware auf uns zu, und ich habe sofort erkannt, wenn wir da in eine Kooperation mit SAP kommen, dann gibt es einen Durchbruch. Und so ist es gewesen! Wir haben dann 3 Jahre lang mit Quarta Vista ein Projekt gemacht, wo wir versucht haben, diese Methode der Buchhaltung in Rechnungslegungssoftware einzubringen.

ZUK: Und das in Kooperation mit SAP?

C.H.: Ja, als Experiment. Wir waren uns klar, das wird Folgen haben. 2016/17 war das Thema noch eine Randdiskussion und jetzt erkennt SAP „wir waren früh dran! Jetzt haben wir da schon was mit Quarta Vista, was demnächst gebraucht wird.“ Im Zusammenhang mit der Diskussion um dieses Projekt, bin ich dann in Kreise gekommen, in die ich sonst niemals reingekommen wäre.

ZUK: Was für Kreise waren das?

C.H.: Das Deutsche Rechnungslegungs Standards Committee (DRSC) ist die Institution, die die Rechnungslegungsstandards zu Buchhaltung und Bilanzierung ausarbeitet und dem Justizministerium vorlegt. Also eine sehr einflussreiche Institution, was Bilanzierungsstandards angeht. Mit denen sind wir in einem ganz offenen und intensiven Arbeitsprozess. Auch was von wissenschaftlicher Seite plötzlich auf uns zukommt und mit wem wir jetzt Fachdiskussionen führen, z.B. mit der Bundesbank.

ZUK: Das heißt, das Thema kommt jetzt an die Schaltstellen, an denen man etwas verändern kann?

C.H.: Ja, das kann man so sagen.

ZUK: Wie sind denn so die Reaktionen, wenn Du Eure Ideen in unterschiedlichen Zirkeln vorträgst?

C.H.: Also bei Laien, die sich kaum mit Buchhaltung auskennen, ist die Reaktion entweder Unverständnis oder höchstens, „ach ja, interessant“. Aber bei ExpertInnen zu solchen Themen kommt in den letzten 3-4 Jahren dann oft starkes Interesse und auch die Frage, warum sie selbst daran noch nie gedacht haben, obwohl sie jeden Tag mit Buchhaltung und Bilanz zu tun haben. Das sind wirklich großartige Erlebnisse für mich. Es ist aber leider eine Tragödie, dass in der Szene aus der ich komme, aus der Ökoszene, Ökonomie und Wirtschaften so abgelehnt wurden, per se, als Haltung. Damit hat man den Wirtschaftsbegriff ent-ökologisiert, man hat keine Verantwortung übernommen und damit die Deutungshoheit für das, was Ökonomie ausmachen soll, aus der Hand gegeben, und denen überlassen, die kein ökologisches Verständnis haben. Damit habe ich lange gehadert. Den einen hat das ökonomische Verständnis gefehlt und den anderen das ökologische. Wenn diese beiden Seiten zusammengefunden hätten, dann könnten wir schon so viel weiter sein.

ZUK: Aus meiner Sicht steckt in dieser Realbilanzierung ja eine Forderung nach Gerechtigkeit drin. Denn im Moment ist es ja so, dass diese positiven Beiträge, die z.B. die ökologische Landwirtschaft für die Natur und den Menschen leistet, nicht honoriert werden, da man sie nicht einpreisen kann. Man kann sie nicht an den Kunden weitergeben, denn dann ist man nicht mehr wettbewerbsfähig, sie werden aber auch nicht in der Wertigkeit des Hofes niedergeschlagen. D.h. jeder, der ökologisch wirtschaftet und etwas für Mensch und Umwelt tut, hat eigentlich auf dem freien Markt einen Wettbewerbsnachteil, weil alles, was er leistet, rein rechnerisch nur Kosten produziert und gar nicht gesehen wird. Es ist also eigentlich die Forderung, dass man die realen Kosten aufschlüsselt. Ihr hattet dazu die Idee, dass diese Leistungen der Landwirte auch ausgeglichen werden sollen, z.B. durch einen Fond?

C.H.: Genau! Aber ich würde gerne die gesamte Landwirtschaft einbeziehen und nicht nur die ökologische, denn nach meiner Erfahrung und das zeigen auch unsere Auswertungen, erbringen alle LandwirtInnen Leistungen für das Gemeinwohl.

Die Nachhaltigkeitsbilanz: eine Art finanzielles Übersetzungstool für die vielfältigen Leistungen, die LandwirtInnen für die Gesellschaft erbringen

ZUK.: Wie weit seid ihr mit der Idee schon gekommen, gibt es da schon Ansätze?

C.H.: Es gibt verschiedene Ansätze, diese Leistungen zu honorieren, z.B. durch die EU-Ausgleichszahlungen. Wir fordern, dass diese endlich mal nach dem Leistungsprinzip verteilt werden. Es ist ja schon absurd, dass in einem Wirtschaftssystem, in dem Leistung alles ist, was zählt, ausgerechnet diese Zahlungen nach anderen Kriterien vergeben werden. Dass diese Gelder in Zukunft ökologische und soziale Leistungen honorieren, das ist das große Ziel. Aber wir machen auch Pilotprojekte mit Bundesländern im Norden, wo eine größere Anzahl von Betrieben diese Leistungsrechnung macht und dann zum Land geht und versucht, das Geld vom Land zu bekommen. Das Gleiche versuchen wir auf kommunaler Ebene in Bayern. Es ist ja auch ungerecht, dass die bewusst ökologisch und regional konsumierenden Kunden praktisch doppelt bezahlen. Einmal bezahlen sie freiwillig den teureren Preis für die schadenvemeidenden Produkte, und dann tragen sie über ihre Steuerzahlung nochmal zur Schadensbehebung bei. Das empfinde ich als ein zutiefst ungerechtes System. Die Leistungen, die die ökologische Wirtschaftsweise erbringt, sind Leistungen fürs Gemeinwohl, und daher sollten die Ausgleichszahlungen auch aus öffentlicher Hand kommen. Damit würden auch Bio-Produkte günstiger werden. Aber da stehen wir noch am Anfang. Mit der Leistungsstellung haben wir jetzt die Analyse, die Leistungsstellung. Jetzt muss die Monetarisierung folgen. Aber so wie die Dynamik momentan ist, mit wem wir alles reden, sehe ich eine reale Chance, dass wir das schaffen.

ZUK: Mittlerweile gibt es ja auch die Regionalwert Leistungen GmbH, deren Geschäftsführer du nun bist. Kannst du kurz erklären, was genau ihr dort anbietet?

C.H.: Wir bieten die Regionalwert Leistungsrechnung allen landwirtschaftlichen Betrieben zur Durchführung an. Das ist ein Online Tool mit dem der Betrieb mit relativ wenig Aufwand von ca. 2 bis 4 Stunden pro Jahr seine Nachhaltigkeitsleistungen auswerten lassen kann.

ZUK: Und wie wird dieses Tool angenommen?

C.H.: Es wird mehr, mittlerweile haben ca. 500 Betriebe die Auswertung gemacht. Aber ich würde mir natürlich wünschen, dass viele Betriebe ihren Mehrwert ausrechnen und damit eine Forderung an die Gesellschaft stellen.

ZUK: Was wären aus Deiner Sicht nun die nächsten, wichtigen Schritte?

C.H.: Es muss schnell eine Bewegung aus der Land- und Ernährungswirtschaft geben, in der man gemeinsam überlegt, woher das Geld für die Bereitstellung dieser Leistungen der Landwirtschaft herkommen könnte. Im Grunde ist es gar nicht soviel Geld. Wir haben hochgerechnet, dass mit ca. 200 EUR pro BundesbürgerIn und pro Jahr alle Leistungen, die die Landwirtschaft für den Schutz der Gemeingüter leistet, bezahlt wären. Natürlich gibt es ja noch Entwicklungsbedarf, aber selbst wenn alle landwirtschaftlichen Betriebe noch viel mehr Leistungen zur Schadensvermeidung erbringen würden, wäre es nicht viel mehr als 250 EUR.

ZUK: Das klingt ja nach einem überschaubaren Betrag. Für deinen Einsatz im Bereich Nachhaltigkeit hast du diverse Auszeichnungen bekommen, zuletzt 2020 den ZEIT Wissens Preis „Mut zur Nachhaltigkeit“. Würdest du sagen, Dein Thema ist langsam in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

C.H.: Mit Quarta Vista und Richtig Rechnen! würde ich sagen, da kommen wir jetzt langsam in die Mitte, zumindest in die Mitte der Gesellschaft der Bilanzierungsexperten. Wenn Wirtschaftsprüfer auf höchster Ebene und Rechnungslegungs-institutionen darüber nachdenken, diese Aspekte reinzunehmen, dann sind wir nah dran. Es wird auch die Finanzbranche selbst sein, die vorantreiben wird, dass Risiken in die Bilanz kommen. Denn die Finanzbranche hat große Angst vor Risiken, daher wird sie diesen Prozess beschleunigen, dass sich die Art der Bilanzierung ändert.

ZUK: Daraus folgt ja eigentlich auch, dass du diese Modelle als universal anwendbar ansiehst?

C.H.: Ja, auf jeden Fall!

ZUK: Das ist doch ein positives Schlusswort!


[1] SDGs = die von der UN definierten Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030